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Alexandra Kautzky-Willer im Interview

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Alexandra Kautzky-Willer im Talk

Frage: Was versteht man unter Gendermedizin?

Antwort: Dieser medizinische Fachbereich beschäftigt sich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen in allen Bereichen der Gesundheit - von der Prävention über die Diagnostik bis zur Behandlung. Das ist ein Riesenthema, das in alle Disziplinen hineingeht und die gravierenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen im gesamten Lebenszyklus umfasst.

Frage: Worin zeigen sich die Unterschiede?

Antwort: Die Unterschiede finden sich in allen Organen und Organsystemen, auch in der Zellebene. Natürlich bewirken die Sexualhormone massive Unterschiede, beeinflussen aber nicht nur die Fortpflanzung, sondern sind auch für Energiehaushalt, Stoffwechsel, Immunsystem, Herz-Kreislauf-System usw. mit verantwortlich. Sie sind neben den genetischen Unterschieden die Ursache, dass bestimmte Krankheiten in bestimmten Lebensabschnitten viel häufiger auftreten. Frauen haben etwa massiv mehr Autoimmunerkrankungen, sind aber weniger anfällig für Infektionskrankheiten. Männer bekommen früher und häufiger Diabetes und Herzinfarkt - das hängt alles auch mit den Sexualhormonen zusammen.

Frage: Verhalten sich Männer und Frauen nicht auch anders, etwa was den Lebensstil betrifft?

Antwort: Ein ganz wesentlicher Aspekt der Gendermedizin ist die Wechselwirkung von Biologie und allen sozialen Faktoren, also Umwelt, Lebensbedingungen, Lebensstil, Kultur, Ausbildung, Zugang zum Gesundheitssystem, etc. - also die vielen Faktoren, die auch die Gesundheit massiv beeinflussen können. Beides wirkt zusammen, man kann es nicht trennen. Das wird auch in der Epigenetik ganz deutlich.

Frage: Sie nannten bereits die bekannten Unterschiede von Mann und Frau beim Herzinfarkt. Gibt es weitere Beispiele?

Antwort: Es gibt aus jedem Fachbereich Beispiele, speziell in meinen Fachgebieten Übergewicht und Diabetes zeigen sich aber ganz deutliche Unterschiede. So wird bei Frauen etwa Typ 2-Diabetes in der Frühphase nicht gut erkannt. Grund ist, dass man bei Routineuntersuchungen nüchtern zur Blutabnahme kommt und Frauen dabei oft noch einen normalen Blutzuckerspiegel haben. Würde man nach dem Essen oder einem Belastungstest mit einer Zuckerlösung messen, könnten die Befunde schon deutlich pathologisch sein. Zudem verlieren Frauen mit Diabetes den mit Östrogenen verbundenen üblichen Schutz vor Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen. Ihr Risiko ist dann plötzlich im Vergleich zu gesunden Frauen um ein Vielfaches höher.

Frage: Und wie sieht es mit der medikamentösen Behandlung aus?

Antwort: Bei den Medikamenten gibt es ganz viele Unterschiede, die stärker beachtet werden müssen. Da muss die Forschung noch viel mehr ansetzen, damit in Zukunft etwa im Beipacktext steht, so ist das Medikament bei Frauen anzuwenden und so beim Mann. Und wenn es Frauen nehmen, gibt es Unterschiede, ob sie vor oder nach der Menopause sind, oder in der ersten oder der zweiten Zyklushälfte.

Frage: Wird es in Zukunft also ein und dasselbe Medikament speziell adaptiert für Frauen und Männer geben?

Antwort: Ich glaube nicht, dass es eine rosa und eine hellblaue Pille geben wird oder einen Männer- und einen Frauen-Eingang in der Ambulanz. Aber bereits im Beipacktext wird es etwa den Hinweis geben, welche Nebenwirkungen häufiger bei Frauen zu erwarten sind. Es gibt tatsächlich um 70 Prozent mehr Nebenwirkungen bei Frauen im Vergleich zu Männern, weil die Arzneimittelforschung primär auf den Mann ausgerichtet war und nach wie vor viel zu wenige Frauen in die Medikamentenforschung eingeschlossen sind. Außerdem werden sicher geschlechtsspezifische Konzepte zukünftig zur besseren Versorgung beitragen. Jedenfalls muss die Sensitivität und die Genderkompetenz gestärkt werden.

Frage: Wie steht es denn um das Bewusstsein für Gendermedizin bei den Ärzten?

Antwort: Es sind schon wesentliche Fortschritte zu verzeichnen. Im Medizin-Studium ist Gendermedizin fix im Lehrplan integriert, wir haben in Wien einen Universitätslehrgang für Gendermedizin und ein Diplom der Ärztekammer als niederschwelliges Fortbildungsangebot. Auch bei allen Kongressen gibt es zunehmend einzelne Themenblöcke, die sich speziell dem Thema widmen. Aber natürlich bedeutet das Thema etwa für niedergelassene Ärzte, die sich bisher noch nicht damit beschäftigt haben, einen Mehraufwand.

Frage: Ist die Gendermedizin ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer völlig individuell abgestimmten Therapie?

Antwort: Nein, so sehe ich es nicht. Ich sehe es eben als ständigen Begleiter, Hand in Hand gehend mit personalisierter Medizin. Denn auch wenn sich die Gendermedizin mit Gruppen - Männern und Frauen - beschäftigt, geht es natürlich immer um das Individuum; das aber aus ganzheitlicher Sicht.

Frage: Wo sehen Sie den dringendsten Forschungsbedarf im Bereich Gendermedizin?

Antwort: Natürlich muss man die Gendermedizin fachspezifisch jeweils fördern. Ganz wichtig ist es aber, das Thema generell noch mehr in der Forschungsförderung zu beachten und junge Nachwuchsforscher, die sich hier engagieren, besser zu unterstützen. Insgesamt brauchen wir die Unterstützung der Gesellschaft - insofern freut es mich besonders, dass ich vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten mit diesem Thema im Hintergrund zur "Wissenschafterin des Jahres" gewählt wurde.

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