Österreichische Ärztetage

Süchtige werden stigmatisiert und benachteiligt

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Opiatabhängige genauso chronisch krank wie Hypertonie-Patienten - Medizin macht unhaltbare Unterschiede

Opiatabhängige sind chronisch schwer krank. Eine im Vergleich zu Patienten mit anderen schweren und unheilbaren Erkrankungen "verrückte" Sichtweise von Medizin und Gesellschaft stigmatisiert und benachteiligt die Betroffenen. Das verringert auch den Erfolg der Therapie, hieß es Montagnachmittag bei den Österreichischen Ärztetagen in Grado (bis 27. Mai).

Schwere chronische Erkrankung

"Sucht ist eine schwere chronische Erkrankung mit einem hohen Anteil komorbider (zusätzlich vorhandener; Anm.) Störungen und einer hohen Mortalität", stellte der Tiroler Psychiater Ekkehard Madlung-Kratzer (KH Hall) fest. Während die Medizin aber bei ähnlich chronischen "körperlichen" Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma überhaupt kein Problem damit hat, Betroffene so zu behandeln, dass die Lebensqualität möglichst gut bleibt und Komplikationen bei weiterhin bestehender Krankheit ausbleiben, verhielt und verhalte sie sich zum Teil bei Abhängigkeit noch immer anders.

Ziel ist nicht primär die Abstinenz

"Niemand würde bei Bluthochdruck daran denken, nach einem halben Jahr die Therapie zu beenden. Bei der Suchtkrankheit ist es aber nach wie vor so, dass Menschen auf Entzug 'geschickt' werden", sagte der Experte. "Es geht aber nicht um Heilung, weil Sucht eine chronische Erkrankung ist." Ziel jeglicher Behandlung sei die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit und nicht primär Abstinenz. Bereits 1986 hätte das US-Drogenforschungsinstitut NIDA festgestellt: "Das erwünschte Ziel einer Erholung ist eine Situation, in der Drogenmissbrauch und damit verbundenes Verhalten für das Leben des Betroffenen keine Problematik mehr darstellt."

Jahrzehntelang verlangten aber Medizin und eine in Suchtfragen moralisierende Gesellschaft in stigmatisierender Weise selbst von den schwerstkranken Opiatabhängigen, dass sie gefälligst "clean" werden müssten. "Dabei erreichen abstinenz-orientierte Therapien nur einen kleinen Teil der Abhängigen - ein bis zehn Prozent. 40 bis 70 Prozent der Suchtkranken brechen eine abstinenz-orientierte Therapie ab. Nach einer solchen Therapie bleibt nur eine Minderheit längerfristig abstinent.

Drogenkonsum möglichst ungefährlich machen

Die Konsequenzen solcher Denkweisen sind verheerend. Keine Behandlungsstrategie kann wirken, wenn sie nicht bei den Patienten ankommt. Es gehe also darum, möglichst viele Opiatabhängige zu stabilisieren, ihre physische, psychische und soziale Situation zu verbessern und vor allem mit einer Substitutionstherapie und anderen Maßnahmen den Drogenkonsum möglichst ungefährlich zu machen, betonte Madlung-Kratzer. "Wir haben in Österreich rund 50 Prozent der Opiatabhängigen (insgesamt um 30.000 Betroffene; Anm.) in Behandlung. Man hat aber in der Suchttherapie das Gefühl, dass wir sehr viel Energie aufwenden, um einen großen Teil der Patienten abzuhalten." Das liege an Restriktionen, für die Betroffenen nicht einhaltbaren Regelungen bezüglich der Einnahme bzw. Abgabe der Drogenersatzmedikamente etc.

Rechtfertigungsdruck

Dabei sind die Erfolge der Drogenersatztherapie - vor allem wegen des ständigen Rechtfertigungsdrucks für solche Strategien in der Gesellschaft - international durch zahlreiche Studien belegt. Der Experte nannte dazu Zahlen: Die jährliche Sterberate von Patienten mit problematischem Opiatkonsum (Injektion von Heroin, Gefahr des Mischkonsums etc.) liegt bei ein bis zwei Prozent. Sie ist 13 Mal höher als die Sterbequote der Allgemeinbevölkerung. Die Mortalität von Opiatabhängigen in Behandlung ist 3,9 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Sterblichkeit solcher Patienten ohne Therapie ist 21,4 Mal höher als sonst.

"Entzugstherapie" schädlicher als ihr vorzeitiger Abbruch

"In der somatischen Medizin (physische Erkrankungen; Anm.) würde das als höchst effiziente Therapiemethode anerkannt werden", sagte der Psychiater. Die "Entzugstherapie" habe sich in Studien als schädlicher als ihr vorzeitiger Abbruch herausgestellt: "Patienten, welche es 'erfolgreich' geschafft hatten, eine Entzugstherapie abzubrechen, hatten eine höhere Überlebensrate als jene, welche die Therapie 'erfolgreich' beendet hatten." Mit allen verfügbaren Anstrengungen hätten er und sein Team es 1997 und in der Zeit bis zur Etablierung der Substitutionstherapie geschafft, dass 60 Prozent der Patienten opiatfrei entlassen werden konnten. "Aber alle kamen nach ein paar Monaten wieder."

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